Papa, warum erzählst Du mir nicht Dein Leben?

Sontone Sueyo ist einer der letzten lebenden Harakmbut, der sich an die Zeit vor der Invasion der weißen Missionare erinnert. Seine Geschichte aufgeschrieben hat sein Sohn Hector.

Wenn Sontone Sueyo von seiner Jugend erzählt, gewinnt seine brüchige Stimme auf einmal an Kraft, wie wenn die Erinnerung an die weit zurückliegende Jugend neue Energien verleiht. Das schlechte Gehör, das mangelnde Gedächtnis, die Schmerzen in allen Knochen, wenn sich der über 80-jährige mühsam bewegt: all das scheint wie weggeblasen, wenn Sontone Sueyo, seines Zeichens ein großer Jäger seines Volkes, sich an das große Fest erinnert, mit dem er und andere junge Jäger der Harakmbut in die Gemeinschaft aufgenommen worden sind. „Die ganze Nacht haben wir gesungen“. Der alte Mann stimmt eine Melodie an, die er damals eigens für seinen Initiationsritus gelernt hatte. 26 Tapire hat Sontone mit seinem Pfeil und Bogen erlegt im Laufe seines langen Lebens, „einmal drei mit einem einzigen Pfeil“. Daneben auch Affen – die besonders schwer zu jagen sind –, unzählige Hokku-Hühner, Papageien, Wildschweine, Ameisenbären und den einen oder anderen Jaguar.

Sontone Sueyo, der Weise seines Volkes, sitzt auf einem Holzschemel auf der breiten Veranda im Dorf „Boca de Inambari“, da wo der Fluss Inambari in den „Madre de Dios“ mündet, der der gleichnamigen Amazonas-Provinz in Peru den Namen gegeben hat. Ein tropischer Regenfall trommelt auf das Blechdach, während Sontone sich an die ersten Begegnungen mit den spanischen Missionaren erinnert. „Brrrrrr“, macht er das Geräusch des Flugzeugs nach, das ihn als Jugendlichen zuerst erschreckte und dann erfreute. Denn aus dem Krach machenden metallenen Vogel fielen Beutel mit allen möglichen Dingen, die ihnen fremd waren: Ketten, Kleider, Kekse, Streichhölzer, Messer. „Die Kleider warfen wir schnell weg“, erinnert sich Sontone, „aber die Messer und Macheten waren uns überaus nützlich“. Das Flugzeug war nur die Ankündigung: später kam der spanische Missionar selber, in Begleitung einheimischer Dolmetscher, und nach einigen anfänglichen Scharmützeln überzeugte er die Harakmbut, nach und nach ihr Nomadenleben aufzugeben und sich auf seiner Missionsstation niederzulassen. Dort wurde Sontone Sueyo zu Antonio Sueyo.

Auch Hector Sueyo hat noch gelernt, mit Pfeil und Bogen zu jagen.

Die Missionare hatten zwei Strategien“, übersetzt Sohn Hector Sueyo. „Sie lockten uns mit nützlichen Geschenken und schossen mit ihren Gewehren auch oft in die Luft oder trafen absichtlich daneben, um die verletzten Indigenen mitnehmen zu können“.

Hector Sueyos Einstellung zur spanischen Dominikaner-Mission ist heute wohlwollend kritisch: „Dass sie uns Gesundheitsversorgung und Bildung gegeben haben, ist schon gut. Aber der Unterricht war nur in Spanisch, viele haben ihre eigene Sprache verloren. Es galt nur die westliche Kultur“.

Hector Sueyo, 51 Jahre alt, mit einer eckigen Brille auf dem breiten Gesicht, ist das einzige lebende Kind seines Vaters. „Pakari, die alte weise Frau unseres Volkes, blies ihm auf die Knie, damit er stark und groß wird, wie wir Harakmbut es sind“, erzählt Vater Sontone. Der Segen hat gewirkt. Hector Sueyo ist ein großer, kräftiger Mann, dem man ohne weiteres zutraut, dass er tagelang im Wald auf Jagd gehen kann. Er wurde 1968 auf der Missionsstation Shintuya geboren. Dank eines Stipendiums der Indigenen-Föderation Fenamad konnte er zuerst die Sekundarschule besuchen und danach in Lima Soziologie studieren. Hector Sueyo ist heute in beiden Welten zu Hause: in der spanisch-sprechenden Großstadt ebenso wie im 140 Seelen zählenden Boca de Inambari, wo er jedes Wochenende seinen Vater besucht und mit ihm in Harakmbut spricht.

Geschichtsschreiber aus de eigenen Volk

Hector Sueyo ist der erste Harakmbut, der die Lebensgeschichte seines Volkes aufschreibt. Bisher war dies ausländischen Ethnologen vorbehalten oder auch peruanischen Wissenschaftlern aus der fernen Hauptstadt. „Oft konnten die gerade mal ein paar Worte unserer Sprache und haben ganz viel rein interpretiert“, kritisiert Hecto Sueyo. „Aber warum sollte ich nicht selber die Geschichte meines Vaters aufschreiben”, fragte er sich und seinen Vater: „Papa, warum erzählst du mir nicht Dein Leben?”

Herausgekommen ist ein einzigartiges Buch: „Soy Sontone. Memorias de una vida en aislamiento“. Möglich wurde es nur, weil Hector Sueyo in einer anderen Gegend Perus arbeitete und sein Vater ihn dort für mehrere Monate besuchte. Dort hat er seinen Vater immer wieder „in kleinen Häppchen“ gefragt, erzählen lassen und hat das Gesagte aufgezeichnet. „Es war ein langer Prozess, denn die Erzählung meines Vaters ist nicht immer stringent, er wiederholt sich oft oder er wird müde“. Und äußerst anspruchsvoll für den Verfasser, der das in Harakmbut gesprochene Wort ins Spanische verschriftlichte. „Viele glaubten, dass wir vor dem Kontakt mit den Weißen wie wilde Tiere gelebt hätten, aber als ich die Geschichte meines Vaters hörte, lernte ich, wie beispielhaft dieses Leben im Wald auch für unser heutiges Leben sein kann“.

Heute erfährt die Kultur und die Sprache der indigenen Völker mehr Aufmerksamkeit. Es gibt – endlich – zweisprachige staatliche Schulen. Und mehr junge Harakmbut, die die Sekundarschule besuchen oder sogar die Universität.

Auf dem Rückweg aus Boca Inambari macht Hector Sueyo Halt bei den Nachbarn seines Vaters, Carlos und seinem Bruder. Die beiden alten Männer sitzen unter dem Blechdach vor ihrem Holzhaus und schauen, wer den Dorfweg entlang kommt. Hecto Sueyo grüsst und nimmt Platz auf ihrer Veranda. Der rund 70-jährige Carlos ist gerade dabei, mit der Machete eine Kürbisfrucht auszuhöhlen, sein noch älterer Bruder sitzt in einem Rollstuhl daneben. Sofort beginnt eine lebhafte Konversation in Harakmbut zwischen den Dreien. „Bitte keine Fotos oder Aufnahmen“, sagt Hector Sueyo. „Sie haben schon zu viele Ethnologen und Journalisten hier gesehen“. Irgendwann kommen sie bei ihrem Gespräch auf ihre Jugenderinnerungen. Welche Tiere sie wann und wo gejagt haben. Wie zum Beweis holt Carlos, der jüngere der beiden Brüder, seinen Pfeil und Bogen heraus, legt eine Kakaofrucht auf einen Stuhl, tritt fünf Meter zurück, spannt – und trifft die Kakaofrucht mitten ins Herz.

Hector Sueyo wünscht, dass mehr junge Harakmbut, die Geschichte ihrer Eltern und Großeltern aufschreiben. „Denn die alten Weisen unseres Volkes sterben und nehmen ihre Erinnerungen mit ins Grab.“


Hildegard Willer

Diese Reportage ist Teil der Reportageserie aus dem peruanischen Regenwald, ein Projekt der Infostelle Peru mit Unterstützung von Caritas International und der Erzdiözese Freiburg.

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