© Andina/Comando Conjunto FFAA

Vizcatan: Massaker im Amazonasgebiet

Das Massaker von Vizcatan im Drogenanbaugebiet VRAEM hat den Wahlkampf beeinflusst. Die Anhänger von Keiko Fujimori behaupteten, dass Sendero Luminoso dahinter stünde und brachten den Kandidaten Pedro Castillo mit Sendero Luminoso in Verbindung.

Heinz Schulze dräuselt die verschiedenen Versionen, die über das Massaker zirkulieren, auf.

 

 

Die Tat, das Dorf, die Tatorte und die Mörder:

Am 23. Mai 2021, einem Pfingstsonntag, stürmte eine Gruppe von Männern in zwei Bars und ermordeten16 Erwachsene und zwei Kinder in San Miguel del Ene, Landkreis Vizcatán, Provinz Satipo, Region Junìn, im zentralen Regenwald Perus.

San Miguel del Ene ist ein Dorf mit ca. 400 Bewohner*innen. Sie verstehen sich als Landwirt*innen. Viele von ihnen bewirtschaften Flächen mit Cocasträuchern für die spätere Herstellung von Kokain.

Die  Täter, die Angaben schwanken zwischen drei und mehr als zehn, schossen mit Pistolen, Gewehren und einer Schnellfeuerwaffe.

Bei den Tatorten handelt es sich um zwei Bars – namens Carla und Quebradita -, einfache Baracken, mit ausgelagerten Zimmern, die als Bordelle dienen, alles etwa zehn Minuten vom Dorfzentrum und vom Fluss Ene entfernt. Betreiberinnen der Etablissements sind aus der Andenregion Apurimac zugezogene Frauen. Auch die „Begleitdamen“, wie die Prostituierten genannt werden, kommen vom Hochland.

Es regnete sehr heftig an diesem Sonntagabend. Ein Teil der Bevölkerung, die Anhängerschaft evangelikalen Bekenntnisses, befand sich in ihrer Kirche. Ein anderer Teil der Männer verbrachte den Sonntagabend damit, das verdiente Geld beim Trinken, Glücksspiel oder bei einer der Prostituierten auszugeben.

 

Unterschiedliche Erklärungen

 

Ich selber hörte am 24. Mai  in einer Nachrichtensendung von dem Massaker und erkundigte mich umgehend bei indigenen Organisationen in der Region.

Die ersten Meldungen aus der Hauptstadt Lima über das Massaker waren peinlich falsch. Sie nannten den Ort der Tat: Vizcatán. Der liegt in den Anden, Provinz Huanta, Region Ayacucho, und ist als Zentrum des Kokainhandels bekannt. Mit dem gleichnamigen Landkreis im Regenwald, in dem die Morde geschahen, konnte wohl keine/r etwas anfangen. Dafür aber machte der ehemalige Innenminister und derzeitige Berater der Präsidentschaftskandidatin Keiko Fujimori, Fernando Rospigliosi, noch in der Mordnacht die „narcoterroristas“ als Täter aus.

 

Die übrig gebliebene Fraktion Sendero Rojo (Roter Pfad) der früheren Guerillaorganisation Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) sei verantwortlich. Dass diese tatsächlich mit den „narcos“, der Drogenmafia, kooperiert, ist bekannt.

Hugo Cabieses vom Forschungszentrum für Drogen und Menschenrechte wundert sich, dass diese Erklärung erfolgte, noch bevor die zuständige Drogenbekämpfungseinheit von Polizei und Militär (DIRCOTE) sich geäußert hatte. Zeitungsberichten zufolge war der Ex-Innenminister und Keiko-Berater durch einen Offizier im Innenministerium „vorab“ informiert worden. Allerdings trug er Tage später der erstaunten Öffentlichkeit einschlägige Flugblatttexte von den Tatorten vor, die die Bevölkerung aufforderten, nicht oder ungültig zu wählen um damit eine mögliche Präsidentschaft der Kandidatin Keiko bei den Stichwahlen zu verhindern.

 

* Der Version, dass Sendero Rojo, sprich Narkoterroristen, mit dieser Aktion Keiko Fujimori als Präsidentin verhindern wollten, folgten öffentlich die amtierende Verteidigungsministerin sowie der Chef der Anti-Terrorbehörde DIRCOTE.

* Die Erwiderung darauf folgte auf dem Fuße: Parteigänger des aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten Pedro Castillo bezichtigten die Gruppe um die “rechte” Keiko Fujimori, sie wolle (mit der Tat) ihren “linken” Kandidaten Castillo in die Nähe zu  Terroristen rücken und seine Wahlchancen zunichte machen.

 

Eine überlebende Augenzeugin sagt aus, dass das Massaker nicht von der Senderogruppe unter Quispe Palomino (alias Carlos und Anselmo) verübt worden sei. Die Verbrecher seien in Zivil und nicht in den typischen schwarzen T-Shirts von Sendero gekommen und hätten außerdem die Taschen der Getöteten durchsucht und alles gestohlen – sogar das Geld aus dem Spielautomaten (Ojo Público, 25.5.21).

Es könnte sich um einen Racheakt der Drogenmafia handeln, meint Angel Pedro Valerio, Präsident der indigenen Föderation CARE am 28.Mai. Obwohl politische Gegner, ähneln sich die Mutmaßungen des zuständigen Friedensrichters Casas und des Bürgermeisters Atao von San Miguel del Ene: Sie können sich kaum vorstellen, dass tatsächlich Sendero die Morde begangen habe, weil das eine folgenschwere Kriegserklärung an alle Cocapflanzer*innen wäre und einem Schuss ins eigene Knie gleichkäme. Und sie könnten es nicht gewesen sein, weil sie ja derzeit die Schutzmacht der Drogenmafia seien.

 

Der Bürgermeister erläutert, dass er die von Rospigliosi ins Feld geführten Flugblätter für nicht authentisch hält (nicht die Sprache von Sendero) und außerdem mindestens drei Personen nach der Tat auf Motorrädern geflüchtet seien – für die Leute von Sendero ein Unding. Die ließen die Leute am Ort zusammentrommeln und trugen ihre Forderungen oder Befehle vor und bewegten sich ansonsten möglichst unauffällig zu Fuß im Wald. So dumm, Handys zu klauen und mitzunehmen, so dass ihr Aufenthaltsort festgestellt werden könne, seien die Terroristen sicher nicht. Er frage sich, warum die Täter nach der Tag  mit Motorrädern die Straße nach Esmeralda genommen habe; dort im Tal könne man gut den Fluss überqueren und dann zu einer Militärbasis gelangen.

Der Friedensrichter fügt ein anderes Detail zum Bild. Am 15. Mai, eine Woche vor dem Massaker, kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Polizisten der nahen  Polizeistation Natividad de Jesus und Leuten aus dem Dorf, bei der ein Bewohner starb. Zuvor waren Soldaten des Antiterror-Kommandos nach San Juan del Mantaro ausgerückt, um dort vermutete Drogenhändler zu stellen. Die gab es nicht. Die Soldaten schossen in die Luft und raubten Geschäfte aus.

 

Mein eigenes vorläufiges Fazit:

Auch wenn ich keinerlei Sympathien für den kriminellen Sendero Luminoso hege, so sind doch  Zweifel angebracht, dass sie das Massaker begangen haben. Eine Aufklärung steht noch aus.

Dass die Situation im zentralen Regenwald sehr ernst ist zeigen die Todesdrohungen gegen den indigenen Landkreisbürgermeister und seine Familie im Landkreis Pangoa. Diesmal von der illegalen Holzfäller-“Mafia“.

Heinz Schulze

 

Quellen: Zahlreiche Telefonate und E-Mail-Korrespondenz mit indigenen Vertreter*innen, außerdem El Comercio, la República, Hildebrand y sus trece, ojo público u.a.m. im Zeitraum vom 24. – 28.5.21)