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Präsident Vizcarra stellt die Vertrauensfrage

….. und setzt sich (vorerst) durch.

Am 30. Mai reichte Premier Salvador del Solar im Namen der Regierung einen Antrag im Parlament ein, der die Abgeordneten dazu aufforderte, sechs Gesetzesvorhaben der Regierung des Präsidenten Vizcarra zuzustimmen. Sollte sie dafür das Vertrauen nicht ausgesprochen bekommen, wäre die Auflösung des Parlaments und die Ausrufung von Neuwahlen die erste Option für das peruanische Oberhaupt. Vizcarra und sein Kabinett hatten sich zu diesem drastischen Schritt entschlossen, nachdem der Fujiaprismo seine Mehrheit dazu genutzt hatte, zwei einschneidende Maßnahmen gegen die Interessen im Antikorruptionskampf der Regierung durchzusetzen: Am 22. Mai wurde im Verfassungsausschuss unter Leitung der neuen starken Frau von Fuerza Popular, Rosa Bartra, seitens der Parteien Fuerza Popular, APRA, Alianza para el Progreso und Acción Popular das Kernstück der Reformvorhaben, nämlich die Neuregelungen der Aufhebung der Immunität von Abgeordneten, kurzerhand ins Archiv verfrachtet. Alle diese Parteien haben Abgeordnete, die juristisch verfolgt wurden, werden oder denen dies droht. Zweitens hatte der „Ständige Ausschuss des Parlaments“ wenige Tage später den unter Korruptionsverdacht stehenden ehemaligen Generalstaatsanwalt Chávarry endgültig vor juristischer Verfolgung und Amtsenthebung geschützt. Dieser „Schachzug“ vom 28. Mai, der für den Fujiaprismo den großen Befreiungsschlag im Anti-Antikorruptionskampf herbeiführen sollte, brachte dann das Fass zum Überlaufen.

Spätestens mit der Deckung Chávarrys blieb der Regierung keine Wahl mehr, als mit einer Auflösung des Parlaments zu drohen, die von der großen Mehrheit der peruanischen Bevölkerung eh schon seit Monaten gefordert wird. Chávarry ist zur Symbolfigur der Korruption in der Judikative und dessen Schutz zu einer vorrangigen Aufgabe des Fujiaprismo geworden. In einem abgehörten Chat von der „La Botica“ getauften Gruppe Abgeordneter von Fuerza Popular hatte Rosa Bartra den Schutz von Chávarry zur Überlebensfrage erklärt. „Es wäre schrecklich, sich in die Enge treiben zu lassen, man muss sich widersetzen, es geht ums Überleben, außerdem stehen diejenigen, die informiert sind (ich meine das Volk) auf der Seite von Chávarry.“ (https://bit.ly/2F1utsU )

Im „Ständigen Ausschuss des Parlaments“ wurden die Empfehlungen des „Parlamentarischen Unterausschusses für Verfassungsklagen“ zur Einleitung juristischer Maßnahmen gegen Chávarry mit 13 zu 12 Stimmen abgelehnt und archiviert. Das der Kommission vorgelegte Dokument des Abgeordneten Juan Sheput hatte folgende Anklagen und Maßnahmen gegen Chávarry empfohlen: Untersuchung wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Vetternwirtschaft bzw. Ämterpatronage, Unterlassung sowie seine Amtsenthebung und ein Amtsausübungsverbot für zehn Jahre. Lediglich die minderschwere Anklage wegen Verdunkelung wurde zugelassen. Letztere bezieht sich auf den Entlassungsversuch der beiden Antikorruptions-Staatsanwälte Rafael Vela und José Domingo Pérez an Silvester 2018. Die ebenso empfohlenen juristischen Maßnahmen gegen den, Oberstaatsanwalt Tomás Gálvez, der mit der Mafia „Die weißen Kragen vom Hafen“ in Verbindung gebracht wurde, wurden gleichermaßen abgelehnt und vorerst ad acta gelegt.

Die erneute Begünstigung Chávarrys wurde von Parlamentspräsident Salaverry, abtrünniger Fujimorista und inzwischen exponierter Gegner der Machenschaften des Fujiaprismo im Parlament, scharf kritisiert. Er warf dem Ausschuss vor, der Bevölkerung den Rücken zugekehrt zu haben. Der Kampf gegen die Korruption sei kein Gerede, sondern müsse sich in konkreten Maßnahmen ausdrücken: „Sie haben sich nicht geändert, sie bleiben die Gleichen, beschämend!!“ Salaverry hatte zuvor schon eine Gesetzesänderung blockiert, die die Strafen auf Geldwäsche mittels illegaler Partei-Finanzierung drastisch senken sollte. Die Rache folgte auf dem Fuß: Noch kurz vor der Behandlung der Vertrauensfrage im Parlament verabschiedete der Ethikausschuss, nachdem die oppositionelle Minderheit diesen unter Protest verlassen hatte, einen Antrag an das Parlament, in dem die Suspendierung von Salaverry wegen ethischer Verfehlung für drei Monate empfohlen wird.

Im Fall Chávarry kann die Regierung als Exekutive zwar nicht das Parlament oder den Ausschuss zwingen, die Archivierung rückgängig zu machen. Das muss und wird die Opposition mit aller Macht anstreben.

Für die Regierung ging es bei der Vertrauensfrage um wesentlich mehr: um den Kampf gegen die Korruption, einem wesentlichen Bestandteil der im Rahmen des nationalen Referendums abgestimmten Reformen. War Chávarry der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, so wiegte die Archivierung der Gesetzesreform zur Immunität wesentlich schwerer.

Die systematische Verschleppung der Reformen

Vor dem Hintergrund, dass schon am 9. Dezember 2019 ein nationales Referendum über die Reform der peruanischen Verfassung abgehalten wurde, in der es um die Reform des Justizwesens, die Finanzierung von Wahlkampagnen, die Wiederwahl von Abgeordneten und die Wiedereinführung des Zweikammer-Systems mit Senat und Kongress ging und bis dato nichts davon umgesetzt wurde, hatte die Regierung vor über einem Monat zwölf Gesetzesinitiativen zur Debatte in die parlamentarischen Ausschüsse eingebracht. Mit der Immunitätsfrage begann der Fujiaprismo sogleich damit, die ersten Vorhaben zu verwerfen. Das konnte die Regierung keineswegs mehr hinnehmen. So kam es also dazu, dass Premier Salvador del Solar im Namen der Regierung die Vertrauensfrage stellte.

Die Vertrauensfrage

In seiner deutlichen, präzisen Rede stellte del Solar dann am 4. Juni im Parlament die sechs Initiativen vor, denen die Abgeordneten zustimmen sollten. Er geißelte erneut die Korruption und die vom Fujiaprismo betriebene Verdunkelungs- und Boykottpolitik. Die Reformen müssten nicht wortwörtlich in Gesetzesform übernommen werden, deren Substanz dürfe aber keinesfalls verloren gehen. Die Vertrauensfrage seitens der Regierung finde im Rahmen der verfassungsmäßigen Rechte statt und sei in keiner Weise mit vorhergegangenen Parlamentsauflösungen vergleichbar, wie Fuerza Popular und APRA unterstellen würden. Nach seiner scharfen Rede wurden folgende Vorhaben zur Abstimmung gestellt, hier auf den Kern reduziert dargestellt:

1. Eine verfassungsmäßige Gesetzesinitiative zur Modifizierung des Artikels 34 der Verfassung, in dem es um Hinderungsgründe für eine Kandidatur fürs Parlament geht. Danach soll künftig niemand für das Parlament oder ein anderes öffentliches Amt kandidieren dürfen, der in erster Instanz wegen einer vorsätzlichen Straftat zu mindestens vier Jahren verurteilt wurde.

2. Ein Gesetz zur Stärkung der internen Parteidemokratie. Hierbei geht es im Wesentlichen darum, dass Kandidat*innen für verschiedene politische Ämter direkt durch die Mitglieder der Partei und durch alle peruanischen Wahlberechtigten gewählt werden können. Die Wahlen sollen entsprechend öffentlich und simultan im ganzen Land stattfinden.

3. Eine Änderung des Wahlrechts. Es soll nur noch eine Listenwahl mit fester Rangfolge ohne Präferenzstimmen für einzelne Kandidat*innen geben. Dadurch wird u.a. die weit verbreitete Praxis unterbunden, durch Wahlgeschenke und Versprechungen die individuelle Popularität zu steigern und sich so unlauter bei der Wahl durchzusetzen. So wird  auch die Verlockung gesenkt, populäre Kandidat*innen einzuladen, die nicht in die Partei und deren politischer Paraxis eingebunden sind.

4. Änderungen zur Einschreibung und Löschung von Parteien in und aus dem Wahlregister. Hier geht es besonders darum, die hohe Hürde von 800.000 Unterschriften zu kippen, die es neuen Parteien praktisch unmöglich macht, sich für Wahlen registrieren zu lassen. Diese hohe Anforderung hat zur Entstehung eines neuen lukrativen Geschäftsfeldes geführt, nämlich dem gewerblichen Stimmenverkauf an Parteien. 14.000 registrierte Parteimitglieder sollen stattdessen die Voraussetzung für die Wahlbeteiligung bilden. Dadurch sollen künftige Parteien auch stabiler und langlebiger werden.

5. Ein Gesetz zur Kriminalisierung von Finanzierungspraktiken für Parteien, in dem eindeutig definiert wird, welche Finanzierung legal und welche verboten wird. Ebenso Modalitäten für die Transparenz- und Informationspflicht.

6. Ein Gesetz zur Modifizierung des Aufhebungsprozesses der parlamentarischen Immunität. Das Vorhaben, das gerade durch den Fujiaprismo (vorerst) archiviert wurde und die Vertrauensfrage der Regierung ausgelöst hat. Nicht mehr das Parlament, sondern eine unabhängige und unparteiische Instanz soll künftig über die Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten entscheiden. Die Regierung möchte diese Aufgabe bevorzugt an eine gerichtliche Instanz übertragen.

Da zwei der angestrebten Gesetzesänderungen Verfassungsrang haben, müssen sie bis zum 15. Juni, dem Ende der Legislaturperiode 2018/19, abgestimmt sein. Eine Verlängerung von einigen Tagen ist möglich. Gerade eben wurde die zweite Jahresperiode bis zum 25. Juli verlängert. Nur wenn diese knappe Terminierung eingehalten wird, können die Änderungen vor den Wahlen 2021 in Kraft treten. Das peruanische Recht sieht vor, dass Verfassungsänderungen lediglich bis zu einem Jahr vor der nächsten Regierungsperiode vorgenommen werden dürfen.

Die Debatte und das Ergebnis

Nach einigen gescheiterten Winkelzügen des Fujimorismo, um die Befassung doch noch aufzuhalten, fand nach der Rede von del Solar die zweitägige parlamentarische Debatte über die zur Abstimmung gestellten sechs Vorhaben der Regierung statt. Sie trug zeitweilig bizarre Züge. Manche Abgeordnete von Fuerza Popular und APRA schienen sich in einer Art Parallelwelt zu bewegen und befassten sich mit allem Möglichen nur nicht mit den zur Debatte stehenden Themen. Scharfe Angriffe kamen von der Führungsriege von Fuerza Popular und APRA, die die Vertrauensfrage als verfassungswidrig denunzierten und der Exekutive Erpressung und diktatorische Absichten vorwarfen. Mancher Beitrag war mit wüsten persönlichen Beschimpfungen gegen den Präsidenten garniert.

Am Ende der hitzigen Auseinandersetzungen stimmten 77 Abgeordnete für die Gesetzesinitiativen der Regierung und 44 dagegen. Drei Abgeordnete enthielten sich. Fuerza Popular hatte nicht einheitlich abgestimmt. Die exponiertesten Kritiker*innen Vizcarras mussten zur Gesichtswahrung gegen ihn stimmen. Gleichzeitig hatte die Partei dafür gesorgt, dass noch genügend Abgeordnete aus ihren Reihen zugunsten der Reformen stimmten, um eine Auflösung des Parlaments zu verhindern. Das war zu erwarten. Die beiden linken Fraktionen Frente Amplio und Nuevo Peru haben geschlossen gegen die Vorhaben gestimmt und so der Regierung das Vertrauen verweigert. Ebenfalls die APRA, allerdings aus anderen Gründen als die Linke.

Vizcarra hat sich damit vorerst durchgesetzt. Es könnte jedoch ein Pyrrhussieg gewesen sein. Die Debatte und weitere Reaktionen nach der Abstimmung haben noch einmal deutlich gemacht, dass der Fujiaprismo die rein taktisch befürworteten Reformen am liebsten in den Müll treten würde. Kaum war die Abstimmung vorüber, hatte sich Rosa Bartra schon deutlich zu Wort gemeldet: Der Wille zur Durchführung einer Reform bestehe zwar, es existiere jedoch keine Verpflichtung, die Substanz der Projekte zu respektieren. Etwas Derartiges sei in der Verfassung nicht verankert.

Die linken Fraktionen Frente Amplio und Nuevo Peru hegen durchaus Sympathien für die Vorhaben, die auf mehr Demokratie und konsequentere Korruptionsbekämpfung abzielen. Sie gehen jedoch davon aus, dass sich unter den aktuellen parlamentarischen Kräfteverhältnissen keine nennenswerten Veränderungen durchsetzen lassen. Diese Meinung teilen auch viele Kommentator*innen aus unterschiedlichen Spektren der Zivilgesellschaft. Sie trauen Fuerza Popular und APRA ebenso wenig über den Weg und rechnen mit weiteren Boykott-Manövern, die den Reformen den Zahn ziehen sollen.

Für die Linke geht es jedoch um weitaus mehr als einige Reformen von Seiten der Regierung. In Fragen der Wirtschafts-, Bildungs-, Umwelt-, Steuer-, Arbeits- und Sozialpolitik steht sie der Regierung diametral entgegen. Daher begründete Marco Arana vom Frente Amplio die Ablehnung der Regierungsvorhaben mit der neoliberalen Politik der Regierung und forderte erneut vehement die Auflösung des Parlaments, die Durchführung von Neuwahlen und die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung. (https://bit.ly/2WuuXxm, ab 1:33:15)

Diese Zielsetzung erhält mit der Vorbereitung eines Generalstreiks für den 20. Juni durch zivilgesellschaftliche Gruppen, linke Parteien, Umweltverbände, Gewerkschaften, Gremien, und Regionalbewegungen starke Rückendeckung. Der Streik richtet sich gegen die neuen arbeitnehmerfeindlichen Gesetze, darunter die Aufhebung von kollektiven Tarifverhandlungen, und fordert eine neue Verfassung zur Gründung einer neuen Republik.

Andreas Baumgart