Lita Ruiz, Nani Mosquera Schwenninger und Rita Ubillus (v.l.n.r.) vor dem Wandgemälde im Kommunikationszentrum 2017 (© Joni Rodriguez)

Peruanische Wüstenstadt und schwäbisches Universitätsstädtchen: kann das gut gehen?

Und ob! Langjährige Solidaritätsarbeit mündete vor 14 Jahren in eine offizielle Städtepartnerschaft zwischen Villa El Salvador im Süden Limas  und Tübingen. Nani Mosquera Schwenninger war von Anfang an dabei.

 

Die Geschichte der Partnerschaft von Villa El Salvador (VES) und Tübingen ist die Geschichte einer Freundschaft. Und  man/frau weiß, die wahren Freundschaften werden durch das Zusammenhalten  in schwierigen wie in guten Zeiten geschmiedet.

Diese Freundschaft begann mit einer Begegnung in Villa El Salvador. Mein 2010 verstorbener Compañero Walter Schwenninger war mit anderen Theologen dort, im Juli 1982. Walter war sehr beeindruckt von den Menschen in Villa El Salvador, von ihrer Selbstorganisation, Solidarität und Selbstverwaltung. Diese Stadt war sehr jung. Erst 11 Jahre alt. In diesem Jahr 2021 wird sie 50 Jahre alt.

Die Feierlichkeiten, und der Rückblick und der Blick in die Zukunft werden anders sein in diesen unsicheren Zeiten.

Die Migration vom Land in die Stadt begann in den 1940er Jahren. Bis dahin lebten in Peru mehr Menschen auf dem Land als in der Stadt. Die Bäuer*innen lebten ein sehr armes Leben. In der Stadt hoffen sie auf Fortschritt, dass ihre Kinder ein besseres Leben haben würden als sie selbst. Die meisten von ihnen gingen in die Stadt, um Arbeit zu suchen. Auch der Wunsch nach Bildung für ihre Kinder und der Zugang zu medizinischer Versorgung waren ausschlaggebend für ihre Entscheidung. Die ländlichen Regionen wurden vom Staat damals weitgehend im Stich gelassen, wie es  auch heute noch der Fall ist. Die Pandemie hat uns diese Not, die Verletzlichkeit und Verlassenheit der Armen, in den Anden wie auch im Amazonasgebiet, einmal wieder gezeigt. .In den Städten, besonders in Lima, war die Lage zu Beginn der Corona-Quarantäne so schlimm, dass Tausende Menschen versuchten zu Fuß in ihren Heimatort zu gelangen.

 

Der Beginn einer langen Freundschaft

Stand des Peru-AK 1994 in Tübingen. Foto: Walter Schwenninger

Wir waren eine Solidaritätsgruppe, der Peru Arbeitskreis (AK) im Weltladen, und haben das Thema Peru und Villa El Salvador in die Tübinger Öffentlichkeit eingebracht. Präsent zu sein war uns ganz wichtig. Die Menschen in Tübingen wussten, dass z.B. am 1. Mai und am Weihnachtsmarkt der Peru AK  immer einen Stand hatte,  oft mit unserer Foto- und Plakat-Ausstellung über Lebensrealitäten und politisch-soziale Themen in VES. Über die Jahre hinweg haben wir  14mal die Peru-Tage veranstaltet. Die letzten Peru-Tage hatte das Schwerpunkthema „Wasser – ein Menschenrecht“. Wir haben außerdem zehn entwicklungspolitische Studienreisen nach Peru und VES durchgeführt. Und wir waren vernetzt mit anderen Solidaritätsgruppen in ganz Deutschland. Wir waren bei der Gründung der Informationsstelle Peru e.V. dabei. Ich selber war viele Jahre im Vorstand der ISP.

Wir haben am Beispiel von VES viele der Probleme, die Peru betreffen, dargestellt. Dabei haben wir uns immer gefragt „Was hat es mit uns zu tun?“. Wir wollten auf lokaler Ebene die globalen Zusammenhänge aufzeigen. Wie agieren die deutschen Unternehmen in Ländern des Südens? Welche sind die sozialen und ökologischen Standards in beiden Ländern? Wer gewinnt und wer verliert in diesen Zusammenhängen? Unser erster Besuch aus VES in Tübingen war der zum ersten Mal gewählte Bürgermeister von VES, Michel Azcueta im Jahre 1984, von den Grünen im Bundestag eingeladen. Seitdem war die Idee einer Partnerschaft mit dieser peruanischen Stadt im Süden von Lima unter dem Motto „Voneinander lernen“ im Gespräch. Folgende Schwerpunkthemen haben wir bei unserer Solidaritätsarbeit gehabt, und alle haben sich in VES widergespiegelt.

 

Menschenrechte mit Füßen getreten

In den 1980er und 90er Jahren hat Peru sehr gelitten. 1980 hat der Leuchtende Pfad (Sendero Luminoso), eine terroristische Organisation,  seinen bewaffneten Kampf angefangen, und die Antwort der peruanischen Staatsgewalt war brutal. Die Campesinas und Campesinos gelangten zwischen beide Fronten. Fast 70.000 Menschen sind Opfer dieser Gewalt geworden.75% waren Campesinas und Campesinos, die Quechua, Aimara oder amazonische Sprachen sprechen.  Die Migration von Flüchtlingen in die Städte, hauptsächlich nach Lima, war enorm. Auch nach VES sind viele Flüchtlinge gekommen.1985 besuchte eine Internationale Menschenrechtskommission  Peru. Mein Compañero Walter Schwenninger war Mitglied. Er hat selber erlebt und dokumentiert, dass Militärs in Ayacucho Waffen von Heckler und Koch aus Deutschland benutzten. Daraufhin hat er mit Unterstützung der Peru-Gruppen den Stopp der Waffenexporte im Bundestag gefordert. In VES war die Lage schrecklich, mit den Razzien der Militärs und den Attentaten des Leuchtenden Pfades.

 

Eine Stadt der Frauen

María Elena Moyano spricht beim Besuch in Villa El Salvador von Julius Nyerere, Präsident von Tansania (1987). Bild: Walter Schwenninger

Vor allem die Frauen in Villa El Salvador sind es, die bis heute die Sandwüste in einen lebenswerten Ort verwandeln und für eine gleichberechtigte Gesellschaft kämpfen. In der Stadt haben Frauen viel mehr Zugang zu Erziehung und Bildung als auf dem Land. Die Selbst-Organisation in VES ermöglichte die Partizipation vieler Frauen. So waren viele engagiert in der Erziehung, im Bereich Gesundheit, in den Gemeinschaftsküchen (Comedores) oder im Programm Ein-Glas-Milch (Vaso de leche). Alle diese Bereiche sind traditionell Aufgabe der Frau. Aber die Selbstorganisation ermöglichte viel mehr. Sie diskutierten und tauschten sich aus, um diese Aufgaben zusammen mit  anderen Frauen zu bewältigen. Darüber hinaus haben sie über die anstehenden Probleme diskutiert, sie haben sich politisiert und den herrschenden Machismus in Frage gestellt.  Sie haben sich in verantwortliche Funktionen gewählt und wählen lassen. Und es waren oft auch die Frauen, die das eigene Haus und ganze Stadtviertel aufgebaut haben. Denn die Männer gingen in die Stadt und suchten  Arbeit. In diesen Jahren war VES tagsüber die Frauenstadt. Sie sicherten in den Comedores Populares das Essen für die Familien, versorgten  Kinder, Schwangere, Kranke und Alte mit dem Glas Milch. Die Frauenorganisationen haben erreicht, dass beide Volksorganisationen  – die Volksküchen und das Milch-Programm – gesetzlich anerkannt wurden, und von der Regierung, heute von der Stadtverwaltung, bis heute die Lebensmittel für beide Programme bekommen. Heute ist es sehr wichtig,  dass es beide Organisationen noch gibt und sie wieder die Ernährung sichern, wie damals. Weil diese Organisationen so wichtig waren,  wurden sie auch Ziel der Gewalt von Sendero Luminoso. Maria Elena Moyano, jahrelang die Präsidentin der Frauenorganisation in VES,  wurde von Sendero am 15. Februar 1992 brutal ermordet. Sie ist ein Symbol geworden für ganz Peru im Kampf für Frieden und soziale Gerechtigkeit.

Alberto Fujimori, der damalige Präsident, der jetzt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Korruption in Gefängnis sitzt, hat diese Basisorganisationen durch  parallele Strukturen  und durch Assistenzialismus geschwächt. Auch durch das von ihm propagierte neoliberale Wirtschaftssystem, das auf Individualismus setzt.  Die Pandemie zeigt uns allerdings, welch wichtige Rolle diese Organisationen im Kampf gegen Armut und Hunger gerade heute haben. Und dass es auch wichtig ist, dass Bevölkerung und Bürgermeister*innen zusammen arbeiten. In VES setzen sich bis heute Gemeinderät*innen für die Anliegen dieser Organisationen ein und kontrollieren die Entscheidungen der Stadtverwaltung.

 

Arbeit schaffen

Von Tübingen finanziertes Schreinereiprojekt in Villa El Salvador, 1994. Rechts im Bild: Walter Schwenninger
Von Tübingen unterstütztes Schreinereiprojekt 1994. Rechts im Bild Walter Schwenninger

Mit der Pandemie hat sich die Arbeitssituation der Menschen in VES sehr verschlechtert. In Peru gibt es kaum formelle Arbeit, nur 25% der Beschäftigten haben eine feste Stelle. Jetzt sind es noch weniger, weil viele ihren Arbeitsplatz verloren haben. Es gibt viele Subunternehmer und Tagelöhner. Die Art der Arbeit, die die Menschen bekommen, ist ausbeuterisch, und sie haben keine sozialen Rechte. Der neoliberale Ansatz „Der freie Markt regelt alles“ geht in Peru zu Lasten der ärmeren Menschen. Heute zeigt es sich, wie prekär die Lage ist. Gravierend ist, dass viele Menschen in VES keine andere Möglichkeit haben,  als in Zeiten der Quarantäne dennoch  auf die Straße zu gehen, um mit dem Verkauf von Erdnüssen, Obst, Selbstgekochtem oder Süßigkeiten ein paar Soles zu verdienen. Als der Bürgermeister Joni Rodríguez 1991 in Tübingen war, hatte er ein Projekt für die  Schreinereiausbildung von Jugendlichen vorgestellt. In diesen Schreinereien wurden Stühle, Tische und didaktische Spiele für die selbstverwalteten Kindergärten hergestellt, und es wurde selbstverständlich kein Holz aus dem Regenwald verwendet. Der Gemeinderat hatte damals, auf Antrag der Alternativen Liste (AL) einer Projektpartnerschaft mit VES zugestimmt. Walter Schwenninger war zehn Jahre für die AL im Gemeinderat.

Von 2000 bis 2002 haben wir das saubere und faire Baumwollprojekt mit der Frauenorganisation von Villa El Salvador (FEPOMUVES) umgesetzt. Im Rahmen der Agenda 21 ist dieses Projekt damals vom Land Baden-Württemberg unterstützt worden. Wir hatten im Kommunikationszentrum von VES einen Workshop mit den Frauen und mit der peruanischen NGO DESCO veranstaltet, um  uns über fairen Handel und die Agenda 21 auszutauschen. So entstand ein Projekt mit Babykleidung aus Biobaumwolle, und Taschen mit Symbolen der Partnerschaft, an dem 87 Frauen mitarbeiteten und eine gerechte Bezahlung bekamen.

 

 

Austausch zwischen Schulen und Jugendlichen

Wenige Monate nach der Gründung von VES hat die Schule „Fe y Alegría“ mit dem Unterricht begonnen.  Die Eltern haben damals die Schule selber gebaut. Ende der 1980er Jahre waren wir zum ersten Mal zu Besuch in der Schule.

Reinold Hermanns vom SWR 2 interviewt Katharina Kessler, Freiwillige aus Tübingen, in der Schule Fe y Alegría. Bild: Walter Schwenninger . 2005

Nach dem pädagogischen Ansatz von Paulo Freire werden hier bis heute  Kinder und Jugendliche zu sozialkritischen Menschen ausgebildet. Mehrere der gewählten Volksvertreter*innen von VES sind hier zur Schule gegangen.  Michel Azcueta war hier Lehrer. Seit 1992 gibt es eine Partnerschaft mit dem Uhland-Gymnasium Tübingen. Beide Schulen haben zahlreiche gemeinsame Programme umgesetzt, z.B. der Austausch von Plakaten über verschiedene Themen. Es waren Lehrer*innen- Delegationen aus Tübingen in VES und umgekehrt. Es gibt einen regen Austausch auch über Skype und jetzt Zoom.

Seit zehn Jahren sind Weltwärts-Freiwillige vom Welthaus Bielefeld für ein Jahr in dieser Schule. Sie unterrichten dort Musik, Gemeinschaftskunde und Deutsch. Beim Revers-Programm sind auch Jugendliche aus VES für ein Jahr in Tübingen.

 

Im Tübinger Radio über Villa El Salvador hören

 

Deutsche Weltwärts-Freiwillige im Kommunikationszentrum von Villa El Salvador 2019

Das ist eine historische und wichtige Organisation in VES, die von Schüler*innen und Lehrer*innen der Fe y Alegría schon Ende der 1970er Jahre mitgegründet wurde.  Es war immer ein Ort der Information und wichtig für die Ausbildung. Viele junge Menschen wurden dort ausgebildet in Bereichen wie  Journalismus, Theater oder Filmemachen. Es war vor allem auch ein Ort der Versammlung, des Dialogs, der Debatten und der Treffen. Einige Jahre hat hier die „Universidad Libre“ funktioniert. Mit dem Kommunikationszentrum wurde das o.g. Jugendschreinereiprojekt durchgeführt. Das Radio Stereo Villa für ganz Lima SUR hat seit einigen Jahren eine Partnerschaft mit dem Radio Wüste Welle in Tübingen. In diesem Radiosender sind jedes Jahr ebenfalls Weltwärts-Freiwillige aus dem Welthaus Bielefeld. Sie machen Sendungen über Villa und über Tübingen.  Es gibt hier und heute auch einen regen Austausch über Skype und Zoom. Die Wüste Welle hat zur Zeit ein Projekt mit Radio Stereo Villa,  um über Covid-19  zu informieren. Sie fahren mit einem kleinen Bus in die Armenviertel in Lima SUR meistens an Orte, wo es kein Wasser gibt. Oft gehen sie zu Volksküchen, wo sie Informationen und Kits mit Masken, Alkohol und Seife verteilen.

 

Neue Themen: Wasser und Umwelt

 

Wasser war und ist ein sehr wichtiges Thema in der Arbeit. Wasser ist in VES kein Menschenrecht sondern eine Ware. In Zeiten der Pandemie tritt die krasse Ungerechtigkeit besonders zu Tage, da viele Menschen keinen Zugang zu Wasser haben. Wasser wird in Peru vor allem für riesige Plantagen für die exportorientierte Agrarindustrie verwendet, die dafür sorgt, dass es in Deutschland Mangos, Erdbeeren, Avocados und Spargel auch im Winter gibt. Noch heute müssen viele Menschen in Lima ihr Wasser kanisterweise kaufen.

Seit Jahren arbeiten wir gemeinsam mit den Basisorganisationen zum Thema Umwelt. 1997 gab es einen Ökodialog in VES. Walter Schwenninger ist dafür vom Goethe-Institut eingeladen worden.  Es waren  auch Vertreter*innen von VES und ILO anwesend. Das Thema Wasser war hier sehr wichtig, auch Müll und Abwasser, was z.B. das Industriegebiet von VES besonders betrifft. Auch Themen wie gesunde Ernährung und Gesundheit sind behandelt worden. Peru ist heute eines der vom Klimawandel stark betroffenen Länder. Die Gletscher schmelzen,  der Bergbau verschmutzt die Wasserquellen und die Natur und die Menschen auf dem Lande und in den ärmeren Vierteln in der Stadt sind die Leidtragenden.

 

Voneinander lernen

 

Der Peru-Ak gründete im Dezember 2005 den Partnerschaftsverein. Am 23. September 2006 ist,  nach jahrelanger Partnerschaftsarbeit, die Städtepartnerschaft von VES und Tübingen besiegelt worden. Viele Menschen aus beiden Lebenswelten hatten und haben die Gelegenheit, persönliche Kontakte zu pflegen. Menschen aus VES können das Leben in Tübingen kennenlernen, und die Menschen in Tübingen die lebendige andine Volkskultur der Bewohner*innen von VES oder die Entwicklung des Modells einer basisdemokratischen und selbstverwalteten Gemeinde, wo z.B. 1991 durch die Gesundheitspromotorinnen erreicht wurde, dass in Zeiten der Cholera-Epidemie niemand starb.  Diese Nord-Süd-Städtepartnerschaft ist eine wertvolle entwicklungspolitische Lerngelegenheit für eine bessere Welt nach dem Motto: global denken, lokal handeln.

 

Nani Mosquera Schwenninger

 

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