Notstand in der Selva

Vom Versagen des Staats in der Pandemie und einigen Lehren daraus.

 

Die WHO bezeichnet inzwischen Lateinamerika als weltweites Epizentrum der Corona-Pandemie. In Peru ist offiziell am 1.6.20 von mehr als 170.000 Infizierten und 4.634 Toten die Rede. Auch im amazonischen Regenwald nimmt die Zahl der Erkrankten und Toten zu, in Loreto herrschen katastrophale Zustände. Offizielle Zahlenangaben zeigen offenbar nur die Spitze des Eisbergs.

 

Angesichts der sich zuspitzenden Lage meldeten sich lokale und regionale indigene Organisationen zu Wort, so auch ein Dachverband der indigenen Organisationen in Peru, AIDESEP, der einen umfassenden Forderungskatalog vorlegte und beim Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen und dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (Costa Rica) eine Beschwerde gegen die peruanische Regierung wegen Untätigkeit angesichts der Seuche einreichte. Es werde unterlassen die indigene Bevölkerung zu schützen und dafür ein möglicher Ethnozid in Kauf genommen. Der Vorwurf wurde als berechtigt anerkannt.

Aber auch Maßnahmen von Regierung und anderen erwiesen sich als untauglich oder unzulänglich im Kontext der Lebensrealitäten im Regenwald.

Menschen vom Volk der Tikuna steckten sich an, als sie in die Stadt fuhren, um dort auf der Bank das staatliche Überbrückungsgeld abzuholen. Gerade auf den Märkten und in den Banken infizierten sich die Menschen. Ein anderes Beispiel: Die Maßgabe, sich häufig die Hände mit Seife zu waschen, stellte die 388 Familien in Cunico vor schier unlösbare Aufgaben. Ihr Wasser aus Fluss und Bächen ist durch eine defekte Erdölleitung verseucht, sie sammeln Regenwasser in Eimern – für alles.

 

Drängende Forderungen

Der Indigenen-Dachverband AIDESEP fordert seit Wochen von der peruanischen Regierung

  • die indigenen Siedlungen und Territorien von der Außenwelt zu isolieren, dazu auch die wirtschaftlichen extraktiven Aktivitäten einzustellen, und die Durchführung durch Polizei- und Militärposten an Straßen und Flüssen zu gewährleisten,
  • in allen indigenen Sprachen verständlich und umfassend über das Coronavirus, die Krankheit, Hygiene- und Präventionsmaßnahmen zu informieren,
  • den Schulunterricht im Regenwald in angemessener Form stattfinden zu lassen,
  • staatliche Hilfe vorrangig in Form von Lebensmitteln und Produkten des täglichen Bedarfs zu leisten,
  • diese Produkte in ausreichender Menge und in enger Absprache mit den Dorfchefs unter strikter Befolgung der Gesundheitsvorgaben am Dorfkontrollpunkt abzuliefern.

 

Corona und Korruption

Angesichts zahlreicher Beispiele von Korruption auch in Zeiten von Corona in Peru fordert die Bürgerinitiative Gruppe Transparenz gegen Korruption (GTCC) in einem Offenen Brief dringend Transparenz auf allen Ebenen:

  • Über Öffentliche Mittel und Zuwendungen muss klar, verständlich, und transparent informiert werden. Dies gilt für die Regierung wie für die Gemeinden.
  • Indigene Organisationen, Nichtregierungsorganisationen und internationale Unterstützergruppen sollen die Vorschriften der Regierungsverordnung Nr. 33-2020 strikt überwachen: dass Geldeingänge ordentlich verbucht und die Ausgaben durch Unterschriften (oder Fingerabdruck) der Begünstigten belegt werden.

 

Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott

Corona droht jetzt und wartet nicht, bis eine Regierung handlungsfähig ist. Die indigene Bevölkerung muss, so gut sie kann, sich selbst helfen. In der Provinz Satipo (zentraler Regenwald) beispielsweise trafen sich im Mai 2020 Vertreter*innen von 20 indigenen Dorfgemeinschaften der Asháninka und Nomatsiguenga mit dem für sie in der Gemeinde Mazamari zuständigen Koordinator. Außer Forderungen an die Behörden und die Politik aller Ebenen vereinbarten sie auf Landkreisebene:

  • Ein Sonderfonds für die Dorfgemeinschaften wird aufgelegt. Die indigenen Dorfgemeinschaften wählen seine Leitung. Ebenso wählen sie ihre Vertreter*innen für das zu bildende Komitee Kampf gegen Covid 19 der Provinz.
  • Ein Programm zum Nahrungsmittelanbau wird sofort gestartet.
  • Zur Einhaltung der Hygiene- und Gesundheitsvorschriften nehmen ausschließlich indigene Kontrollposten Hilfslieferungen von außen entgegen.
  • Die (staatlichen) Mittel für (internationale) Programme (z.B. der Drogenbekämpfung) müssen in direkter Planung mit den indigenen Organisationen durchgeführt werden.
  • Die internationale Kooperation hat sich an Auflagen der zuständigen indigenen Organisation zu halten (Föderationen, Dorfkomitees).
  • Gespräche / Verhandlungen von Delegierten mit offiziellen Stellen und Finanzgebern werden im Vorfeld mit den eigenen Leuten vorbereitet: Inhalt, eigene Forderungen, Vorschläge. Das Treffen wird dokumentiert und Ergebnisse oder Zusagen werden vom entsprechenden Partner schriftlich bestätigt.
  • Grundlagen für Eingaben etc. sind jeweils die Rechte Indigener, wie z.B. die Antidiskriminierungsgesetze in Peru, die ILO-Konvention 169, die UN-Deklaration über die Rechte indigener Völker.

Der Bürgermeister griff die Forderungen auf und verfügte insbesondere den indigenen Dorfgemeinschaften würdevoll zu helfen und Hilfsleistungen nur von nicht Infizierten – als Zeichen gilt eine weiße Fahne – an die Kontrollposten zu liefern.

 

Selbstbewusste Wampi und Awajún

Die Wampi in der nördlichen Region Amazonas sind gut organisiert; sie haben den Status einer regionalen, autonomen Regierung errungen. Sie können gelegentlich auf Augenhöhe  mit staatlichen Stellen Vereinbarungen treffen. Beispielsweise erhielten sie die Zusage, dass ihre außerhalb festsitzenden Studierenden nach Aufhebung der Coronamaßnahmen zurück in ihre Region gebracht werden. Bis dahin erhalten sie auf Kosten der Wampi Lebensmittel. Mit dem Militär ist vertraglich vereinbart, dass es den eigenen Wachen hilft, Auswärtige – das gilt besonders auch für illegale Goldgräber und Holzfäller – derzeit vom  Wampi-Territorium fern zu halten, und dass das Militär den Wampi-Wachen Lebensmittel und Diesel zur Verfügung stellt. Mit den lokalen Schulbehörden vereinbarten die Wampi, dass Lehrer*innen trotz Corona weiterhin in den Dörfern bleiben und unterrichten könnten, sofern sie dies wollten. Allerdings funkte das Erziehungsministerium dazwischen und schickte (landesweit) alle Lehrer*innen an ihre Ursprungsorte zurück. Nun unterrichten, im Freien, nur die wenigen Lehrer*innen, die Wampi sind. Sie nutzen die Zeit und holen kundige Wampi dazu, die den Schüler*innen traditionelles Wissen von Pflanzenkunde, Medizin, Geschichte, etc. vermitteln. Und sie fordern, dass in diesen Fächern geprüft und damit das Schuljahr gerettet wird.

Der Kampf gegen das neue Virus ist auch für die Wampi und Awajún nicht einfach: Die Tochterfirma des staatlichen Erdölunternehmens Petroperu, GeoPark, schert sich nicht um die Abmachungen und arbeitet trotz fehlender Umweltverträglichkeitsstudie weiter, obwohl Soldaten auf dem Gelände an Covid 19 erkrankt sind. Inzwischen haben die Wampi Strafanzeige erstattet.

 

In Madre de Dios haben die dort lebenden verschiedenen indigenen Völker über ihren Zusammenschluss Fenamad erreicht, dem regionalen Komitee zum Kampf gegen Covid-19 anzugehören – und damit das Feld nicht den Behörden und dem WWF als Vertreter der Zivilgesellschaft zu überlassen, sondern über sie betreffende Angelegenheiten mit zu entscheiden.

 

Insgesamt fordern indigene Organisationen erstens unmittelbare Soforthilfe und zweitens strategische Weichenstellungen um sich abzeichnende weitere Tragödien und Katastrophen zu verhindern. Dabei können sie auf Zustimmung des peruanischen Staatssekretaers im Umweltministerium,  Gabriel Quijandría,  zählen. Er schrieb im April, dass nach Corona alles mit einer grünen Perspektive weitergehen müsse; eine Energiewende stattfinden und ohne weitere Abholzung produziert werden müsse. Maßstab müsse eine wirklich nachhaltige Entwicklung werden, Umweltschutz sei wichtiger Bestandteil. Die „harten Ministerien“ (Wirtschaft, Landwirtschaft, Bergbau etc.) aber haben durchgesetzt, dass, wenn bestimmte gesundheitliche Vorschriften befolgt werden, die Arbeit im Bergbau oder die Regenwaldabholzung wieder aufgenommen werden können.

 

Unzureichendes Notstandsgesetz

Immer wieder forderten und fordern indigene Organisationen, Biolog*innen, Umweltschützer*innen, Mediziner*innen und viele mehr, von der peruanischen Regierung ein konkretes Maßnahmenpaket für die indigene Bevölkerung im Regenwald. Was erfolgt ist, sicher nicht unbeeinflusst von der Entscheidung des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte wegen der bisherigen Unterlassungen: die Regierung Perus verkündete mit Dekret Nr. 1498 ein Notstandsgesetz für indigene Völker, das nicht nur von Anwält*innen, Universitätsangehörigen und Organisationen kritisiert wird. Es liste nur bestehende Normen und Gesetze auf, sei zu unkonkret, substanziell nicht geeignet zur Pandemiebekämpfung und bestimme dafür weder Strategie noch konkrete Maßnahmen. Sogar die Vorschläge der Interamerikanischen Entwicklungsbank für den Dialog zwischen Regierungsstellen und indigenen Organisationen seien weitgehender als der Erlass.

 

Ein Vermächtnis

Silvio Valles Lamas aus Vista Alegre del Pachitea starb mit 42 Jahren an Covid-19. Er war engagierter Shipibo, Landrat in der Region Ucayali, und setzte sich dafür ein, dass in der Coronazeit auch Shipibofamilien in der Stadt Pucallpa Lebensmittel erhielten.

Als er am 3 Mai 2020 erfuhr, dass er sich (wohl in der Stadt) angesteckt habe und erkrankt sei, schrieb er: „Wisst Ihr, was das Schlimmste ist? Es ist die Angst, die ich habe, weil ich nicht weiß, wen ich angesteckt habe. Habe ich meine Familie angesteckt (Anm: seine Eltern sind erkrankt), die Verwaltungsmitarbeiter*innen, meine Freunde, Nachbarn? (…) Wir alle müssen aus dieser Pandemie Lehren ziehen, darunter die, die indigenen Dorfgemeinschaften mehr zu achten und nicht zu vernachlässigen. Wir müssen lernen, dass Peru nicht nur aus der Hauptstadt Lima besteht. Wir müssen lernen, dass die Gesundheit und eine würdige Arbeit an erster Stelle stehen müssen. (…) Heute bitte ich Euch, schützt Euch und helft Euch untereinander. Solidarität und Aufmerksamkeit! Bitte.”

 

Trudi und Heinz Schulze

 

Quellen:

SPDA, Actualidad Ambiental, 13.5.20

GTCC, Carta abierta: Transparencia ante la pandemía 6.5.20

OCAM, Pronunciamiento a las autoridades y la opinión pública, Mazamari, 5.5.20

 Servindi, Comunidades de Mazamari proponen acciones en tres niveles de gobierno, 13.5.20

Resolución de Alcaldía Nr. 134-2020, Gemeinde Mazamari

Documento Wampi, 29.4.20

GTANW, 17.5. in Servindi

Inforegión, 23.4.20, 17.5.20 und 1.6.2020

Servindi, Observaciones criticas del DL 1498, 12.5.20

 Mongabay, 20.5.20

Silvio Valles, Aprendamos que no se puede relegar más a las comunidades; Servindi, 14.5.2020