Fünf Jahre nach dem „Baguazo“: Gerichtsprozess eröffnet

Die Stadt Bagua im nördlichen Teil des peruanischen Amazonasgebietes ist seit dem 14. Mai 2014  Schauplatz eines Gerichtsprozesses, der aufgrund seiner kulturellen und politischen Hintergründe, seiner Komplexität und politischen Signalwirkung bislang einzigartig in der Geschichte Perus ist. Fünf Jahre mussten die 53 Angeklagten,  24 Indigene (in der Mehrzahl Aguaruna und Huambisa) und 29 Mestizen, auf den Beginn des Prozesses warten. Sie sollen sich für die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei, Indigenen und Mestizen in der „Teufelskurve” bei Bagua verantworten. Bei den Auseinandersetzungen an verschiedenen Orten in der Umgebung von Bagua, dem so genannten Baguazo,  waren am 5. Juni 2009 insgesamt 33 Menschen – 23 Polizisten und 10 Zivilisten – getötet worden. 205 Personen wurden zum Teil schwer verletzt.  Ein Polizist wird bis heute vermisst.  Die Mehrzahl der Verletzten waren Indigene (172) und Mestizen. Fünfzig von ihnen wurden durch Gewehrkugeln teilweise lebensgefährlich verletzt, darunter  Santiago Manuin, einer der namhaften Leiter der Aguaruna. In diesem Prozess geht es um die Gewaltakte, die in der so genannten Teufelskurve verübt wurden.

Auslöser: Dekrete zur Landnutzung

Auslöser für den Konflikt war ein ganzes Paket von Gesetezsvorlagen gewesen, die der ehemalige Präsident Alán Garcia in seiner zweiten Amtszeit (2006–2011) durch den Kongress verabschieden lassen wollte. Denn  die Gesetzesvorlagen verletzten die Rechte der indigenen Völker auf den ausreichenden Schutz des Landes ihrer Dorfgemeinschaften sowie auf Selbstbestimmung und Konsultation. Zudem erleichterten sie erheblich die Ausbreitung extraktiver Industrien im Amazonasgebiet. Daher protestierten die indigenen Völker, insbesondere die Aguaruna und Huambisa, massiv gegen diese gesetzlichen  Maßnahmen und blockierten über einen längeren Zeitraum eine wichtige Verbindungsstraße ins Amazonasgebiet, um die Regierung zu fairen Verhandlungen zu bewegen. Die Straßenblockade wurde am 5. Juni 2009 gewaltsam durch einen groß angelegten  Polizeieinsatz mit schwer bewaffneten Polzisten aufgehoben.  

Viele Indigene, die unter Anklage stehen, hatten für den Prozess eine weite und beschwerliche Reise von ihren Dörfern bis in die Stadt Bagua zurückgelegt. Laut dem vorsitzenden Richter, Gonzalo Zabarburu, wird sich der Prozess wohl bis Ende dieses Jahres hinziehen. Die katholische Kirche ist auf mehrfache Weise im Hinblick auf den Prozess engagiert. Denn die Mehrzahl der Indigenen wird von Rechtsanwälten verteidigt, die die „Bischöfliche Kommission für Soziale Aktion“ (CEAS) stellt. Während der verschiedenen Gerichtstermine sorgt CEAS zusammen mit dem Vikariat für Jaén auch für die Unterbringung, Verpflegung und psychische Begleitung der Indigenen, die unter Anklage stehen. Denn für diese sind die kontinuierlichen Reisen nach Bagua zu den verschiedenen Prozessterminen mit hohen Kosten verbunden. In vielen Fällen hilft die Kirche den Indigenen, das notwendige Geld für den Transport aufzubringen. Die Provinz Condorcanqui, in der die meisten der angeklagten Indigenen leben, gehört zu den ärmsten im Land.  

Zur Eröffnung des Prozesses, der mit großer Spannung erwartete wurde, war der Gerichtssaal neben den Angeklagten, Richtern, Staatsanwälten, Verteidigern und Polizisten mit Reportern nationaler und internationaler Medien, Vertretern von Menschenrechtsorganisationen und kirchlichen Mitarbeitern gefüllt. Auch der Bischof von Jaén, Mons. Santiago de la Rasilla, und zwei internationale Prozessbeobachter vom „Washington Office on Latin America (WOLA) und  „Amazon Watch“   waren anwesend.

Prozessbeginn ohne Übersetzer

Bereits am ersten Tag des Prozesses zeigte der Richter, der den Vorsitz führt, Bereitschaft, die Prozessbedingungen für mehrere der angeklagten Indigenen zu erleichtern.  So ordnete er an, die  die Gefängnishaft von Feliciano Cahuaza in Hausarrest umzuwandeln. Feliciano hatte fünf Jahre unter unmenschlichen Bedingungen in Untersuchungshaft gesessen, obwohl die Untersuchungen eindeutig ergeben hatten, dass er keinen Schuss abgefeuert hatte und somit keinen Polizisten erschossen haben konnte. Die Nachlässigkeit des Gerichtes in Bagua, was die Vorkehrungen für eine Übersetzung in die verschiedenen indigenen Sprachen betraf, rief breite Empörung hervor. Denn das Gericht hatte trotz der langen Vorbereitungszeit nicht dafür gesorgt, dass zu Prozessbeginn Übersetzer anwesend waren. Dieses Versäumnis wurde von den Verteidigern stark kritisiert; sie forderten die Präsenz von Übersetzern für die weiteren Gerichtsverhandlungen. Inzwischen hat der vorsitzende Richter diese Forderung erfüllt.   

Juan José Quispe vom „Instituto de Defensa legal“ (IDL), richtete als Verteidiger das Gesuch an den vorsitzenden Richter, im Verlauf des Prozesses sowohl den ehemaligen Präsidenten Alán García als auch die damalige Innenministerin Mercedes Cabanillas und den damaligen Vorsitzenden des Ministerrates, Yehude Simon, als Zeugen vorzuladen werden, da die Anordnung für den Polizeieinsatz vom 5. Juni 2009 von oberster Regierungsstelle gekommen war. Sein  Gesuch wurde jedoch vom vorsitzenden Richter mit der äußerst fragwürdigen Begründung abgelehnt, dass die Politiker nicht am Ort des Geschehens („Teufelskurve“) gewesen seien.

Staatsanwalt fordert lebenslänglich

Die lange Liste der Anklagen, die die Staatsanwaltschaft gegen die Indigenen und Mestizen erhebt, umfasst u.a. vorsätzliche Tötung, schwere Körperverletzung, Behinderung der öffentlichen Dienste, Störung der öffentlichen Ordnung, Aufruhr sowie Entwendung von polizeilichen Dienstwaffen und Munition. Für mehrere Leiter indigener Organisationen wie Alberto Pizango (Asociación Interétnica de Desarrollo de la Selva; AIDESEP) und Santaigo Manuin Valera (Comisión Especial Permanente de los Pueblos Awajun y Wampis; CEPPAW) hat die Staatsanwaltschaft lebenslängliche Haftstrafen gefordert.  Denn sie werden beschuldigt,  Anstifter der Gewaltakte gewesen zu sein. Allerdings sind die Staatsanwälte bislang für diese wie für die anderen Anklagen stichhaltige Beweise schuldig geblieben.  

Während der Gerichtsverhandlungen  am 26. und 27. Mai wurde ebenfalls deutlich, dass die Anklage auf einem sehr dünnen Fundament steht. Mehrere Indigene sagten aus, dass sie am 5. Juni 2009 willkürlich von der Polizei unter Schlägen und Beschimpfungen verhaftet worden seien. Keiner von ihnen hatte bei seinem Verhör in der Polizeistation einen Anwalt und einen Übersetzer zur Seite. Zudem wurde ihnen die schriftliche Fassung ihrer Aussage nicht vorgelesen, bevor sie diese  unterschrieben. Während des Verhörs wurden sie weiterhin physisch misshandelt. All das  sind schwere Verstöße gegen das Gesetz und grobe Verletzungen grundlegender Rechte von Verhafteten. Nach Ansicht mehrerer Verteidiger müssten die Anklagen, die auf diese Weise zustande gekommen sind, fallen gelassen werden.      

Auch für den katholischen Bischof von Jaén sind viele Aspekte des Prozesses fragwürdig und er betont, dass es nicht zu dem Gewaltausbruch gekommen wäre, „wenn der Kongress und die Regierung beizeiten und nicht erst im Nachhinein die umstrittenen Gesetzesdekrete abgeschafft und das Konsultationsgesetz auf den Weg gebracht hätten. All die Polizisten und Zivilisten wären nicht gestorben, wenn diejenigen, die die höchste politische Macht innehatten, nicht die Polizeiaktion angeordnet hätten, mit der sie die Indigenen, die die Landstraße blockiert hatten, in den frühen Morgenstunden des 5. Juni überraschen wollten, sondern ihnen Zeit für den Rückzug gegeben hätten. Denn diese hatten bereits am 4. Juni entschieden, am darauffolgenden Tag  die Blockade aufzuheben, und sie hatten ihre Entscheidung öffentlich kommuniziert. Das kann ich bezeugen.“

In den kommenden Monaten wird sich zeigen, ob in diesem Prozess mit dem Urteil Recht gesprochen werden wird oder ob politische Machtinteressen die Urteilsfndung stark beeinflussen werden.  

Birgit Weiler (Missionsärztliche Schwestern)