© Vera Lentz

„Damit niemand sagen kann, es sei nicht geschehen“

Viele der bekanntesten Fotos aus dem peruanischen Bürgerkrieg stammen von der deutsch-peruanischen Fotografin Vera Lentz. Hier ist ihre Geschichte´.

Es war im November 1983 in Ayacucho. Die damals 33-jährige Vera Lentz hatte die Kommunalwahlen fotografisch dokumentiert, als jemand ihr einen Zettel im Hotel zuschob: in Socos, 19 Kilometer ausserhalb, hat es ein Massaker gegeben. Ihre Journalisten-Kollegen aus Lima waren bereits abgereist, mit einem Chauffeur aus Ayacucho fuhr Vera Lentz nach Socos und machte eine ihrer bekanntesten Aufnahmen: „La novia” – die Braut. Die 15-jährige Maximiliana Zamora Quispe ganz in Schwarz hinter den Särgen ihres Vaters, ihrer Brüder, ihrer Mutter, ihrer Fast-Schwäger und ihres Fast-Ehemannes Adilberto Quispe Janampa, den sie an diesem Tag heiraten wollte, als die Truppe ehemaliger Polizisten das Dorf überfiel und alle niedermähte.

Vera Lentz ist Fotojournalistin durch und durch. Den bewaffneten Konflikt in Peru zu dokumentieren, machte sie zu ihrer Lebensaufgabe. Auf eigene Faust – d.h. ohne Rückendeckung eines Mediums – und mit dem Geld, das sie mit anderen, kommerzielleren Aufträgen verdiente, fuhr sie immer wieder in die damals rote Zone nach Ayacucho und machte Fotos von all dem Grauen, das sie dort sah – und was damals, in den 80er Jahren, in Lima niemand sehen wollte.

Viele ihrer Fotos blieben 20 Jahre lang ungedruckt. Erst als Anfang 2001 die Wahrheitskommission ihre Arbeit aufnahm und ein Archiv mit Fotos aus der Zeit des Bürgerkrieges suchte, waren die Fotos von Vera Lentz aus den 80er und 90er Jahren ausgegraben und in der Fotoausstellung Yuyanapaq prominent gezeigt. Wer kennt nicht das Schwarz-Weiss-Foto der zerklüfteten Handflächen mit dem Passfoto eines Verschwundenen – es ist von Vera Lentz.

Die Fotografie wurde Vera sozusagen in die Wiege gelegt. Ihre Mutter, Hannerose Herrigel, war nach dem Krieg von Deutschland nach Peru ausgewandert und eröffnete in Lima ein Fotostudio, zu dem die High Society Limas jahrzehntelang pilgerte. Vera Lentz wurde 1950 in Lima geboren, verbrachte aber Teile ihrer Kindheit in Deutschland und lebte als junge Frau über 10 Jahre in New York. Dort wurde sie von den sozial engagierten Fotojournalisten beeinflusst; als sie 1982 nach Peru zurückkehrte, wusste sie, dass sie den bewaffneten Konflikt in ihrer Heimat dokumentieren wollte. „Meine Mutter war nicht begeistert davon, sie meinte, das würde nichts einbringen, und sei außerdem gefährlich”, erinnert sich Vera Lentz. Und es war in der Tat nicht ungefährlich. „Ich bildete immer beide Seiten ab, sowohl die Opfer von Sendero Luminoso aber auch die Opfer der Militärs. Einmal sagte mir jemand in Ayacucho, ich sollte nach Hause gehen. Beide Seiten würden meinen Kopf fordern.” Vera blieb dabei, auch als ihre Tochter 1988 geboren wurde, ließ sie sich nicht abhalten. Eines der seltenen Fotos, auf denen die Fotografin selber abgebildet ist, zeigt sie bei der Arbeit mit der einjährigen Tochter im Tragerucksack.

Vera Lentz ist heute 68 Jahre alt, bringt Studierenden Fotojournalismus bei, und ist oft auf Veranstaltungen zur Erinnerung an den Bürgerkrieg in Lima anzutreffen. Auf die Frage, warum sie so viele Jahre für diese Fotos geopfert hat, warum sie so große Risiken eingegangen ist und dafür lukrativere Jobs hintangestellt hat, antwortet sie einfach: „Ich habe die Bilder gemacht, damit niemand sagen kann, es sei nicht passiert”.

Anders als viele Pressefotografen, die Einmal-Fotos machen und dann verschwinden, ist Vera Lentz immer wieder zu den Schauplätzen der damaligen Gräueltaten zurückgekehrt. Besonders stolz oder „excited” wie sie in ihrem Mischmasch aus Deutsch, Englisch und Spanisch sagt, ist sie darauf, „dass ich die ganze Geschichte zusammen habe”.

Manchmal ist die „ganze Geschichte” tragisch, verwirrend, traurig. So als sie im Jahr 2012, fast 30 Jahre nach dem Massaker von Socos, die „Novia” Maximiliana Zamora wieder aufsuchte. Eine Geschichte, die sie nie losgelassen hatte. Sie fand die damalige Braut im Gefängnis von Ayacucho, wo sie als Drogenkurierin eine Gefängnisstrafe verbüßte.

Für den Dokumentarfilm „Volver a ver” der peruanischen Regisseurin Judith Vélez, ist Vera Lentz mit dieser nach Socos zurückgekehrt und hat die Portraitierten von damals erneut ihre Geschichten erzählen lassen.

Die ganze Geschichte des peruanischen bewaffneten Konflikts gesehen durch die Kamera von Vera Lentz harrt dagegen immer noch der Veröffentlichung.


Hildegard Willer

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